Ein Interview zum Thema ADS bzw. ADHS im Musikunterricht
Dieses Interview entstand im
Rahmen einer Diplomarbeit an der Musikhochschule Karlsruhe. Es antwortet:
Michael Gebhardt, Dipl. Pianist /
Komponist aus Aachen.
www.klassischer-klavierunterricht.de
1. Nennen Sie mir häufig auftretende Symptome von ADS-Kindern in Ihrem Klavierunterricht.
In meinem Klavierunterricht hatte ich bisher nur zwei Fälle von Kindern mit einer sogenannten ADS Auffälligkeit. Das Unvermögen, sich auf primär kognitive Zusammenhänge oder Strukturen zu konzentrieren ist aus meiner Sicht ein wesentliches Symptom des ADS-Kindes. Müdigkeit und Motivationslosigkeit treten später hinzu als Folgeerscheinung des erstgenannten Symptoms. Wesentlich häufiger ist die Verbindung von Aufmerksamkeitsschwäche und Hyperaktivität (ADHS) in meiner Unterrichtspraxis anzutreffen.
2.
Wo haben Sie die meisten Schwierigkeiten, wenn Sie
ADS-Kinder unterrichten ?
Im Allgemeinen empfinden reine ADS-Kinder eine pädagogische Leistungsanforderung seitens des Lehrers grundsätzlich als Überforderung. Dies artikuliert sich in Form von Ablenkungsmanövern bis hin zu plötzlich auftretender Schläfrigkeit. Über den kognitiven Weg ist hier in methodischer Hinsicht nichts erreichbar. Folgendes konnte ich jedoch erkennen: Ähnlich wie Kinder etwa zwischen 5 und 7 Jahren sehr stark auf eine bildhafte Unterrichtsmethodik ansprechen, erreicht man meines Wissens bei ADS-Kindern eine Öffnung des Bewusstseins mittels einer haptisch orientierten Unterrichtsmethodik.
§ Didaktisches Ziel ist die Bereitschaft des Schülers Tonleitern zu spielen.
Glissandi klingen recht interessant und sind leicht zu erlernen. Das Klavierstück ‚Das Butterbrot’ eignet sich gut um die Neugier von Kindern zu wecken. Versucht der Schüler in der Folge ein Glissando auszuführen, kann beispielsweise die Erfahrung gemacht werden, dass die Finger schmerzen. Wie ist es nun möglich, ein solches Glissando mühelos und schmerzfrei auszuführen ?
Mit der Glissando-Technik kann man leider nur weiße oder schwarze Tasten spielen.
Genauso rasch und brillant lässt sich die H Dur Tonleiter mit allen fünf Fingern spielen ...
Über diesen methodischen Weg entsteht auch bei ADS-Kindern genügend Motivation zur Nachahmung, da hier etwas ‚Zum Anfassen’ vorausgegangen ist.
3.
Ist Ihr Verhalten im Unterricht anders, wenn Sie
ADS-Kinder unterrichten ?
Der Unterricht mit solchen Kindern erfordert mehr Kreativität und Agilität mehr emotionale Offenheit und Spontanität, als das mit ‚normalen’ Kindern der Fall ist. Wichtig ist, ich bleibe grundsätzlich begeistert vom musikalischen Gegenstand, ungeachtet der Apathie, mit der ich in diesen Fällen oftmals konfrontiert werde. Ich führe die Hände der Kinder mehrmals durch ein ganzes Stück hindurch, so, als seien es meine Finger und plötzlich beginnen die zunächst nur unbeteiligten Kinderhände eigenständig zu spielen. Es findet hier auf diese Weise eine gewisse Übertragung statt.
4.
Wann haben Sie zum ersten Mal einen Schüler mit ADS
unterrichtet und wie haben Sie diese
Situation bewältigt ?
Im Dezember 2002 unterrichtete ich erstmalig ein Kind mit ADHS-Merkmalen. Jedoch erst ein bis zwei Jahre später wurden diese Auffälligkeiten von ärztlicher Seite als ADHS diagnosdiziert. Es folgte eine Behandlung mit Ritalin. Am Anfang war ich mit dieser Situation etwas überfordert, da ich keine Fortschritte im üblichen Sinne erkennen konnte. Da die Eltern glücklicherweise geduldig und verständnisvoll den Unterricht mitgetragen haben, konnte ich mir langsam auch den Freiraum zu einem unkonventionellen Unterrichtsstil zugestehen.
5.
Können
ADS-Kinder überhaupt mit Noten umgehen ?
Alle Kinder im Alter von 4 bis 8 Jahren unterrichte ich nach eigenen Unterrichtsmaterialien, in denen das musikalische Erleben im Vordergrund steht – ein sehr ähnlicher Ansatz wie die Muttersprachenmethode von S. Suzuki. Noten vermitteln kein unmittelbares Erleben, sind also für ADS-Kinder nicht von Interesse. Manchmal kann man solche Kinder allerdings ermuntern, eigenes zu komponieren, mit der Prämisse, dass der Lehrer das neu entstehende Werk notiert. Auf diese Weise entsteht ein natürliches Interesse am Notenbild.
6.
Welchen Vorteil
haben ADS-Kinder, wenn sie das Klavierspiel erlernen ?
Alle ADHS-Kinder die ich unterrichtet habe, haben ein außerordentlich gutes Klanggedächtnis. Auch die Bereitschaft für motorische Experimente am Klavier ist bei diesen Kindern überdurchschnittlich. Ein neunjähriger Junge spielte mir ein kleines Klavierstück vor, in dem die rechte Hand eine pentatonische Melodie ausführte, während die linke Hand einfache Doppelgriffe in halben Notenwerten spielte. Er spielte das Klavierstück mit überkreuzten Händen – aus Spaß.
Das Klavierspiel steigert auf längere Sicht die soziale Kompetenz der ADHS-Kinder. Sie werden offener für angemessene Interaktionen mit Kindern und Erwachsenen. Sie lernen ihr impulsives und sprunghaftes Agieren zu kontrollieren. Gruppenstunden, in denen sich ADS-, ADHS- und sogenannte normale Kinder gegenseitig vorspielen sind in diesem Zusammenhang sehr förderlich.
7.
Sprechen Sie
mit den Eltern Ihrer ADS-Kinder häufiger als mit den Eltern der normalen Kinder
?
Ja, die Eltern von ADS-Kindern sind in der Regel mitteilsamer, aufgrund der anhaltenden und herausfordernden Problematik, die ihre Kinder an sie herantragen. Man muss hier an dieser Stelle einmal ganz deutlich machen, dass die Probleme der meisten ADS- und ADHS-Kinder erst im Umgang mit dem gewöhnlichen Bildungssystem entstehen, weil sie dort nicht eingeplant worden sind. Diese meist hochintelligenten Kinder stehen durch ihren ‚Brainstormhabitus’ automatisch am Rande der Gesellschaft, da sie sich in kein Schema pressen lassen. Das ist auch der eigentliche Grund, warum die Wurzel des Problems so nachdrücklich in den neurologisch- psychiatrichen Bereich verschoben wird. Die Gesellschaft braucht in Wirklichkeit keine Legionen von innovativen, hochbegabten Menschen, sondern lediglich gut funktionierende. Gute Eltern machen sich zu Recht Sorgen, angesichts solcher Tendenzen und sprechen auch verstärkt darüber, gerade dann, wenn durch die Verabreichung von Medikamenten, bedenkliche, die Persönlichkeit verändernde Wirkungen bei ihren Kindern auftreten.
8.
Wie gehen ADS-Kinder mit den Hausaufgaben um, die Sie
ihnen aufgeben ?
Man muss den Eltern genaue Instruktionen geben, am Ende der jeweiligen Klavierstunde, in denen didaktische und auch methodische Anweisungen enthalten sind. Das ist in meinem Unterricht generell üblich, besonders bei Kindern zwischen 4 und 8 Jahren. ADS bzw. ADHS-Kinder müssen immer kreativ begleitet werden, d.h. als Lehrer sollte man nicht mit seinem Lernziel in den Unterricht gehen, sondern mit der Offenheit, das, was von den Kindern kommt, anzunehmen, um es im pädagogischen Sinne zu transformieren.
9.
Welche
Eigenschaften sollte ein Klavierlehrer mitbringen, wenn er ADS- bzw.
ADHS-Kinder unterrichtet.
Offenheit, Geduld, Toleranz und die Bereitschaft, von seinen Schülern zu lernen, sind für jeden Lehrer wichtig, der im humanistischen Geiste verantwortungsvoll seinen Beruf ausüben möchte. Es gibt sehr viele Lehrkräfte, die hierfür nur wenig Interesse aufbringen – das ist sehr Schade.
10.
Sollte der
Klavierlehrer darüber in Kenntnis gesetzt werden, welche Medikamente die Kinder
nehmen ?
Ja, das halte ich für wichtig. In einem ADHS Fall reagierte der Schüler stets verlangsamt auf alles was ich mit ihm unternahm. Gleichzeitig bemerkte ich eine übergroße Traurigkeit. Das Kind war oft den Tränen nahe. Hier hatten mich die Eltern nicht darüber informiert, dass ihr Kind auf eine bestimmte Medikation eingestellt worden war. Wenn so etwas auftritt, rate ich dazu, nach einer anderen Lösung zu suchen oder das Medikament abzusetzen. Wir wollen ja schließlich Kinder für eine neue und bessere Welt, und nicht neue Kinder in eine veraltete Weltordnung hineinzwängen, oder?
Michael Gebhardt,
Aachen, den 18.12. 2008